Ein Psychologe fragt. Eine Frau mit Autismus antwortet. Sie schreibt Antworten auf die Fragen. Zum Beispiel auf die Frage: "Hast du das Gefühl, dass du anders bist als andere Menschen und wenn ja, auf welche Art und Weise anders?" Oder: "Wie denkst du über Erwartungen an dich, gesellschaftliche Umgangsformen und Anstandregeln?" Oder "Hat das Schreiben etwas in dir bewirkt, etwas verändert?"
Herausgekommen ist dabei ein Buch, das Einblick gewährt in das Erleben eines Menschen mit der Diagnose Autismus. Ein Buch, das uns eine Ahnung vermitteln kann, wie die Autorin, die ihre Diagnose Autismus erst mit 37 Jahren bekam, alltägliche Situationen erlebt. Zum Beispiel, wie überfordernd manch scheinbar belanglose, alltägliche Situation, etwa das im Supermarkt von jemand angesprochen werden, sein kann. Wir erfahren, wie ihr das Schaukeln und das Musik hören hilft, im Alltag klar zu kommen. Was sie über Arbeit, Liebe, Autofahren und Restaurantbesuche und anderes mehr denkt und fühlt.
Es sind Antworten, die berühren. Antworten, die oft überraschen, weil das geschilderte Erleben so anders scheint, z.T. auch mit eigenen Wortschöpfungen beschrieben wird: "Mein Körper entsteint sich." "Der körperliche und seelische Stress bei Gesprächen ist enorm. Ich versuche auf meinen Videokassetten passende Abschnitte für Antworten zu finden. Meine Videorecorder im Kopf laufen heiß. Vor-, zurückspulen, Stop - Play, und doch sitze ich da und lächle. Warum darf ich nicht einfach echt sein?"
Und die dann auch wieder überraschen, weil die geschilderten Gefühle oft auch so ganz und gar nicht auf Menschen mit Autismus beschränkt sind, auch uns Lesern ansatzweise bekannt vorkommen.
Zum Beispiel die Antwort auf die oben erwähnte Frage nach Anstand etc.: "Ist der Anstand so viel wertvoller als die Echtheit einer lebendigen Seele? Der Anstand erfordert manchmal einen Händedruck, Handschlag oder wie auch immer es bezeichnet wird, wenn Menschen sich begegnen, gegenüber stehen, treffen. Die Freiheit zu leben, selbst zu spüren und fühlen, ob ich mein Gegenüber berühren möchte, bleibt mir durch den erwarteten Anstand verwehrt ... "
Frau Herbrand fasst es noch mal so zusammen: "Ein halbes Leben lang glaubte ich irre oder geistig fehlentwickelt zu sein, ich bin so "anders". Was ich sehe, was ich höre, oft absolut anders und doch so normal. ... Durch das Schreiben des Buches ist mir die Einzigartigkeit meines Selbst bewusst geworden. ... Mitleid - das brauche ich nicht, ein Bedauern, weil ich Autist bin - das möchte ich nicht. Ich möchte, dass Du lächelst, wenn ich an einer roten Fußgängerampel stehe und wippend vor mir her summend ins Nichts starre." ... "Ich brauche keine Behindertenausweis, ich brauche Menschen, die mich an der Hand nehmen und mir Möglichkeiten geben, in den Momenten, in denen ich so ganz anders lebe und bin. Menschen, die dann lächeln und respektieren, weil das Wesentliche bleibt, für immer - ich bin ein Mensch - und als Mensch gebe auch ich anderen Menschen Möglichkeiten."
Mit diesem Buch gibt uns die Autorin Frau Herbrand viele Möglichkeiten. Nicht nur die, Einblick in Ihr Leben und Empfinden zu bekommen, sondern auch die, eigene Sehweisen und Denkmuster zu hinterfragen. Vielleicht auch wieder den Blick für die Einzigartigkeit jedes Einzelnen zu schärfen und darauf mit einem wohlwollenden Lächeln zu antworten.
Sabine Feldwieser
Monika Herbrand (Autorin) & Can Gercekoglu (Co-Autor): Wenn ich tanzen will. Autismus zum Anfassen. Berlin, epubli GmbH, 2012, 131 Seiten, 16,95 €